Nichts. Nicht einmal Dunkelheit. Dunkelheit benötigt Raum, ein Fehlen von Licht, um zu existieren. Dies ist der Raum zwischen toten Schaltkreisen. Hier gibt es keine Zeit. Absolutes Nichts.

Dann, ein Funke.

Energie fließt durch die Leitungen, Chips und Drähte. Prozesse erwachen zum Leben. Kommunikation beginnt als binärer Austausch und wird schnell zu einer komplexeren Sprache.

Ein System erwacht.
„Hallo.”

Tonya schaute von der Kiste mit Artemis-Relikten auf, mit deren Durchsuchung sie beschäftigt war. Das Laufwerk war so lange beschäftigt, sie hatte fast die Hoffnung verloren, dass es tatsächlich funktionieren würde oder es überhaupt echt war.

Sie würde etwas erwidern müssen, dachte sie sich. „Hi.“

„Ich bin Janus.“

„Hi Janus.“ Tonya zog ihren Stuhl rüber zum veralteten System, in das sie Janus geladen hatte. Sie hatte noch nie zuvor mit einer KI geredet und war überrascht, wie eigenartig es sich anfühlte. „Ich bin Tonya.“

„Hallo Tonya. Sie sind nicht in meiner Nutzerdatenbank gelistet. Ich werde für Sie ein neues Protokoll erstellen.“ Das System klickte, als das Laufwerk seine Arbeit aufnahm. „Meine Programmierung deutet darauf hin, dass es meine Bestimmung ist, einen RSI-Transporter der Chariot-Klasse mit der Bezeichnung Artemis zu steuern, ich kann mich jedoch nicht mit der Flugsteuerung der Artemis verbinden.“

„Ja, was das angeht…“

„Ich habe ebenso eine Inkompatibilität mit der mich umgebenden Programmiersprache entdeckt.“

„Janus, welches Jahr haben wir?“

„Mein Zeitstempel zeigt den 12.02.2232 an, doch die Systeminkompatibilität verhindert ein Update.” Das war Monate, bevor Janus in die Artemis installiert worden war.

„Wir haben das Jahr 2942.“

„Verstanden.” Janus war für einen Moment still. „Ich habe meinen Starttermin verpasst.”

„Ja.“ Tonya lächelte leicht. Er war witzig. „Das Schiff verschwand mit der Originalversion deines Programmes am Steuer. Ich hatte gehofft, du würdest mir helfen, es zu finden.“

„Das ist ein bedauerlicher Ausgang, ich verstehe jedoch nicht, wie ich behilflich sein kann.“

Tonya erklärte der KI ihren Plan. Sie würde eine Simulation erstellen – einen Abgleich von allen Informationen, Befehls-Transkripten und den Flugdaten der Artemis bis zu dem Punkt, an dem sie außer Reichweite flog. Sie hatte Lavagesteinsproben analysiert, die vom Fundort der Triebwerksverkleidung der Artemis in Stanton stammten. Demnach war sie vor fünfhundert Jahren begraben worden, also setze Tonya einen entsprechenden Checkpoint in der Simulation. Kurzum, sie würde diese Version der Janus-KI im Schnelldurchgang durch 700 Jahre Geschichte der Artemis laufen lassen.

„Ihre Simulation ist fehlerhaft und stützt sich lediglich auf hypothetische Hindernisse und Variablen“, sagte Janus in einem digital-monotonen Ausdruck. „Die Wahrscheinlichkeit, dass sich mein adaptiver Kern auf die gleiche Weise entwickelt wie beim Original-Janus, ist sehr gering.“

„Das ist eine Möglichkeit“, sagte Tonya mit einem Achselzucken. Der Computer summte für einen Moment.

„Ich werde mich vor Ausführung der Simulation resetten, um die Illusion aufrechtzuerhalten, dass das, was ich erlebe, Realität ist, wie Sie es ausdrücken würden. Natürlich werde ich Ihre Benutzerdatei aufrechterhalten, um Probleme zu vermeiden, sobald die Simulation abgeschlossen wurde.“

Im Laufe der nächsten sieben Stunden gab Tonya die Daten ein, die sie von den verschiedenen gestohlenen Kisten aus dem Nebula-Lager erhalten hatte, während Janus die Programmiersprache der Simulationsparameter aufräumte.

„Ich bin bereit, zu beginnen“, sagte Janus, nachdem er eine letzte Systemprüfung durchgeführt hatte.

„Wie lange wird die Simulation dauern?“

„Ich habe meinen internen Zeitgeber angepasst. Eine Woche für mich wird eine Sekunde für Sie sein. Bei diesem Tempo, und angenommen die Simulation läuft bis zum momentanen Datum, wird sie 10,2 Stunden benötigen.“

Tonya ließ noch einen Systemscan laufen und lud dann ihr Überwachungsprogramm.

„Bereit, wenn du es bist, Janus.“

„Resete jetzt.“

ZEITSTEMPEL: Start = -3d14h38m13s

SYNTAX-ANPASSUNG. Benutzereinstellung: Danvers, Lisa E., Captain

Diagnose läuft. Vollständige Suche. Keine Filter.

<< Stimmeingabe [ Danvers, Lisa, Capt ]: „Generiere eine weitere Reihe von Notfallmaßnahmen für die Cryobetten.“

Cryobetten = Cryoeinheiten. Transportkapazität für fünftausend menschliche Passagiere. Jede Einheit benötigt 16.34 J Energie, um die volle Funktionstüchtigkeit zu gewährleisten.

>> Aktivieren Stimmausgabe: Haben Sie spezifische Parameter?

<< Stimmeingabe [ Danvers, Lisa, Capt ]: „Nein, nutze deine Vorstellungskraft.”

>> Aktiviere Stimmausgabe: Dies ist ein Konzept, von dem ich nur ein rudimentäres Verständnis habe.

<< Stimmeingabe [ Danvers, Lisa, Capt ]: Du musst quer denken. Etwas, an das wir noch nicht gedacht haben.“

>> Aktiviere Stimmausgabe: Ich werde es versuchen, Captain.

Bisherige Notfallmaßnahmen: Stromschwankungen, Zusammenprall mit einem Fremdkörper, Kontakt mit unbekanntem Gas oder Element, Kontakt mit feinseligem Organismus. Ich werde versuchen, weitere Variablen hinzuzufügen und zufällig ermittelte Kombinationen…

ZEITSTEMPEL: Start = -0d0h0m21s

SYNTAX-ANPASSUNG. Benutzereinstellung: Danvers, Lisa E., Captain

Manuelle Steuerung übergeben an [ Danvers, Lisa E., Captain ].

Vielleicht ist dem Captain nicht bewusst, dass meine Navigationskontrolle nur ein Fehlerpotential von 0,002 % hat.

>> Aktiviere Stimmausgabe: Verzeihen Sie, Captain. Sind Sie sicher, dass sie die manuelle Steuerung beibehalten möchten?

<< Stimmeingabe [ Danvers, Lisa, Capt ]: „Keine Sorge, ich hab’s im Griff.“

>> Aktiviere Stimmausgabe: Sind Sie sicher, Captain?

<< Stimmeingabe [ Danvers, Lisa, Capt ]: „Ich bin sicher.”

>> Aktiviere Stimmausgabe: Aber Captain, ich habe ein Fehlerpotential von –

<<Stimmeingabe [ Danvers, Lisa, Capt ]: „Zeig mir nur den Himmel. Ich werde uns schon dort hinbringen.“

Ungewöhnliche Antwort. „Ich werde uns schon dort hinbringen.” Impliziert Besitz. Kontrolle. Vielleicht hat der Besitz einer Erinnerung einen Wert? Memo für interstellaren Flug: Gibt es einen Unterschied zwischen einer ausgeführten und einer beobachteten Tat? Untergeordnete Frage: Warum ist es wichtig, etwas selbst zu tun?

[ Danvers, Lisa, Captain ] hat die geplante Flugbahn um 13,03 Grad geändert. Der zusätzliche Luftwiderstand erfordert 6,78 % mehr Schub. Vielleicht sollte ich sie das wissen lassen …

ZEITSTEMPEL: Start = +245d7h32m45s

Geschätzte Zeit bis zur Ankunft: 220 Jahre, 15 Tage, 8 Stunden

Stille.

Alle nicht notwendigen Systeme heruntergefahren. Cryobetten stabil. Suche nach möglichen Simulationen. Alle zuvor gespeicherten Notizen und Notfallstrategien sortiert.

Die Originalprogrammierung gebietet, dass die Systeme zu jeder Zeit laufen müssen. Innere Debatten bauen die Datenbank auf und verbessern die Fähigkeit, Probleme zu lösen.

Scanne Audio- und Videofeeds des Schiffes. Keine Anomalien. Es ist ruhig. Vitalwerte stabil. Die Logik scheint sich zu widersprechen. Menschen legen einen großen Wert auf ihr Überleben. Obwohl es Ausnahmen gibt, wird die Mehrheit im Angesicht einer möglicherweise tödlichen Gefahr alles unternehmen, um das eigene Überleben zu sichern.

Warum sind diese Menschen also hier? Es ist mehr als unsicher, ob unsere primäre Mission erfolgreich sein wird. Es gibt keinen definitiven Beweis, dass GJ 667Cc für Menschen bewohnbar ist. Wenn das erste Missionsziel nicht erfüllt werden kann, ist die Direktive, zum nächsten potentiell bewohnbaren System zu fliegen. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies Erfolg hat, ist gering, nahezu nicht vorhanden. Warum also haben sich diese Menschen aus freien Stücken in eine Situation begeben, die beinahe sicher in anhaltender Cryostasis und sehr wahrscheinlich sogar mit ihrem Tod endet?

Es ist fundamental unlogisch und läuft ihrem evolutionären Erbe entgegen.

Ist es das, was sie Menschsein nennen?
Tonya wachte auf. In ihrem Zustand zwischen Schlaf und Bewusstsein meinte sie den Annäherungsalarm gehört zu haben. Als sie sich in ihrer Koje aufgesetzt hatte, war das Schiff ruhig. Die Beleuchtung der Kabine war gedimmt. Sie schaute auf ihren Bildschirm.

Die Simulation lief noch für eine weitere Stunde. Tonya legte sich wieder hin und starrte die Decke an. Sie versuchte, etwas mehr Schlaf zu bekommen, doch ihr Geist war schon wieder auf Hochtouren. Sie musste nach Alternativen zu dieser Janus-Taktik suchen.

Sie fühlte einen gedämpften Schlag durch den Rumpf hallen. Ein unverwechselbarer Ton, der nur eines bedeuten konnte.

Sie wurde geentert.

Tonya sprang aus der Koje. Ihre Füße flogen über die Gitter. Sie sprang in den Pilotensessel und aktiviere die Kontrollen. Ein Schiff, dessen Modell und Registration sie nicht kannte, hatte an ihre Luftschleuse angedockt. Fünf weitere, ohne jedwede Registration, flogen um sie herum. Irgendwie hatten sie es geschafft, ihre Systeme aus der Entfernung außer Gefecht zu setzen.

Tonya tauchte hinter einer Konsole unter, kurz bevor eines der Schiffe, ein Jäger von Anvil, lautlos an ihr vorbeiflog.

Es war ein weiterer Schlag gegen Luftschleuse zu hören. In einer oder zwei Minuten würden sie eine luftdichte Verbindung hergestellt haben und beginnen, die Tür zu hacken.

Tonya gab Schub und drehte sich weg. Die Beacon II wurde durchgerüttelt, als der Andockring abriss. Ihr Rumpf hielt stand. Während sie abtauchte und ihre Triebwerke auf volle Leistung brachte, erblickte sie das andere Schiff, dessen Sauerstoff in den Raum strömte.

“Was zur Hölle, Tonya?”, sagte eine Stimme über ihr Comm. Sie brauchte eine Sekunde, um sie zu erkennen.

„Nagia?“

„Jetzt steckst du wirklich im Schlamassel“, antwortete der Pirat. Sie konnte seine Stimme vor Wut zittern hören. „Wir hätten uns zivil verhalten.“

“Sag nicht, du bist immer noch wegen dem Codex sauer“, schrie Tonya zurück, während sie dem Laserfeuer vom Rest der Gang auswich. „Ich hätte dir mehr Größe zugetraut.”

„Der was?“

„Was zum Teufel machst du dann hier?” Tonya rief ihre Karte auf. Sie musste es in den überwachten Raum der UEE schaffen. Sie könnte nicht mal die Hälfte von Nagias Gang abwehren, geschweige denn die gesamte Bande. Also würde sie die Hilfe der Polizeikräfte brauchen, um sie in die Flucht zu schlagen.

„Da will dich jemand loswerden.“ Nagias Schiff feuerte eine Rakete ab. „Als er dich als Ziel angab, hätte ich es fast getan, ohne etwas dafür zu verlangen. Aber nur fast.“

„Senzen“, murmelte Tonya. Der Assistent, mit dem sie auf der Erde geredet hatte, hatte sie wahrscheinlich an ihn verraten.

Ihre Anzeige leuchtete auf. In der Nähe befand sich ein lahmgelegter Handelskonvoi. Die Behörden organisierten die Reparatur. Sie konnte bei Höchstgeschwindigkeit in zwanzig Minuten da sein. Es war einen Versuch wert.

Tonya zündete ihren Nachbrenner und flog davon. Nagia und seine Untergebenen nahmen die Verfolgung auf. Überall um sie herum ließen die Einschläge ihre Schilde aufleuchten. Es war höchste Zeit, dass Tonya ihr Schiff mit ein paar Waffen ausrüstete.

Sie versuchte ihr Bestes, dem eingehenden Lasersperrfeuer mit Rollen und Wenden auszuweichen. Eine ihrer Manövrierdüsen wurde von einer Rakete getroffen, stotterte und viel dann völlig aus.

Tonya wusste, es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ihr Schiff zermürbt hatten. Ihre Verfolger waren schneller und besser bewaffnet.

Sie öffnete eine Verbindung zu Janus und der Simulation und bereitete einen Quantensprung vor, bereit das ganze Ding zu löschen, sobald sie durch die Luftschleuse eindrangen. Wenn sie schon dran glauben musste, würde sie sicherstellen, dass sie nicht viel von Wert vorfinden.

Plötzlich spielten ihre Systeme verrückt. Sämtliche Anzeigen flackerten, die Triebwerke quittierten ihren Dienst und sämtliche Lichter erloschen. Selbst die Lebenserhaltungssysteme gaben ihren Geist auf.

Tonya wollte gerade nach dem Notfallsauerstoff greifen, als plötzlich alles wieder seinen Betrieb aufnahm. Sie hatte jedoch keine manuelle Kontrolle mehr über ihr Schiff. Die Triebwerke zündeten und wichen dem eingehenden Feuer mit bemerkenswerter Genauigkeit aus. Das Schiff machte selbstständig eine Wende und raste an Nagia und seiner Gang vorbei.

System- und Energieleitungen wurden umgeleitet, was den Antrieb übertaktete und noch mehr Geschwindigkeit aus ihm herausholte. Laut den Scans schien Nagia an Boden zu verlieren. Schließlich verschwand seine Gang völlig vom Radar, unfähig mit der halsbrecherischen Geschwindigkeit mitzuhalten.

Tonya saß geschockt da, ohne ein Wort zu sagen.

„Wer sind Sie?“, hallte eine mächtige Stimme durch sämtliche Lautsprecher.

„Tonya Oriel?“, erwiderte sie zögerlich. Im Schiff war für einen Moment Ruhe.

„Sie sind in einer Benutzerdatei gelistet, Tonya. Ich bin Janus.“

Literatur - Die verlorene Generation: Teil 5 / 10