Ein Tag in der Geschichte: 18. März 2157 - Das Außerirdische Kind


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VerseExkurs - Ein Tag in der Geschichte: 18. März 2157 - Das Außerirdische Kind


18. März 2157, Standard-Erdenzeit

Die Menschheit war erwachsen geworden und hatte die ersten Schritte unternommen, ihre Heimatwelt zu verlassen. Der Planet Mars war endlich terraformt worden, Senator Stephen Nguyen hatte seine Ansprache beendet und das Denkmal für jene enthüllt, die in der Mars-Tragödie ihr Leben ließen.

Die anwesenden Gäste genossen die Feierlichkeiten, als die Nacht über den Mars hereinbrach. Der Titel „What It Was“ der kometenhaft aufgestiegenen Band „The Roommates“ erklang über die Lautsprecher, als die Feier ihren Lauf nahm.

Es war die Nacht einer großartigen menschlichen Leistung. Was zu diesem Zeitpunkt jedoch noch niemand wusste, war, dass sie noch eine weitere Sensation hervorbringen sollte.

Ein schriller Schrei durchbrach die Musik und lenkte sofort die Aufmerksamkeit des Senators, der Würdenträger und der Wissenschaftler auf sich. Die Quelle des Schreis war schnell ausgemacht: Kinah Okon, eine der technischen Aufseherinnen von Port Renatus. Ursprünglich aus Nigeria kommend war sie mit ihrem Mann Madu bereits seit vielen Jahren Teil des Terraforming-Projekts. Viel wichtiger war jedoch, dass sie seit sieben Monaten mit dem ersten Kind des Paares schwanger gewesen war. Das medizinische Personal der Basis hatte die Entwicklung des Babys genau beobachtet und empfahl ihr sogar eine Versetzung zurück auf die Erde, doch Kinah weigerte sich, das Projekt zu verlassen, das für sie zu einer Herzensangelegenheit geworden war.

Die Sanitäter brachten Kinah und ihren Mann unverzüglich auf die Krankenstation. Um 1:28 Uhr Standard-Erdenzeit wurde Abeni Okon zum ersten Menschen, der auf einem anderen Planeten geboren wurde. Die Geburt verlief allerdings nicht ohne Komplikationen und so musste Abeni mehrere Wochen unter sorgfältiger Beobachtung bleiben.

“Es gab so viel, was wir nicht wussten. Würden die grundlegenden Unterschiede zwischen dem Mars und der Erde einen Einfluss auf das Kind haben? Wir wollten nichts dem Zufall überlassen. Ich fühlte mich mit dem Kind persönlich verbunden, vielleicht waren wir deshalb etwas zu übervorsichtig“, schrieb Dr. Michael V. Smith, Leiter der medizinischen Einrichtungen der Basis, in seine Memoiren. „Doch niemand konnte die enorme Bedeutung dieses Ereignisses abstreiten.“

Abeni wurde schließlich aus der Krankenstation entlassen und an ihre Eltern übergeben, die ihre Tochter nun endlich mit nach Hause nehmen konnten. Doch noch etwas anderes erwartete das Kind – Ruhm.

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Die Medien verfolgten Abeni und strahlten jeden Schritt ihrer Schritte in die Öffentlichkeit aus. Als sich der Mars weiterentwickelt hatte und die Menschen damit begannen, die überbevölkerte Erde zu verlassen, wurde es zusehends schwierig für die Familie Okon, dem Andrang der Neugierigen und Faszinierten zu entkommen.

“Sie hatten alle das Gefühl, sie zu kennen”, bemerkte Kinah Okon in einem ihrer seltenen Interviews. „Alle sahen sie als ihre Tochter, Schwester oder einen Freund. Manchmal ist das süß, oftmals jedoch auch nicht. Es war einfach ein ungesund hohes Maß an Vertrautheit, das ihr von Fremden entgegengebracht wurde.

Es schien nur eine Frage der Zeit zu sein, bis diese nicht enden wollende Belagerung eine Reaktion auslösen würde. In ihrer Zeit als Teenager und in ihren frühen Zwanzigern schien Abeni ihre Zurückhaltung aufzugeben und die Aufmerksamkeit und Schmeicheleien anzunehmen.

Sie konnte in jeder Bar und auf jeder Party gefunden werden, die bereit war, für ihr Erscheinen zu zahlen. Sie ließ sich auf wahnwitzige Geschäfte ein und verschwendete generell das Geld, das sie stets umgab. In der Folge nahm die Berichterstattung der Medien einen anderen Ton an. Abenis Situation war wie die eines beschädigten Schiffes, das versuchte über Wasser zu bleiben, während alle anderen genau sehen konnten, dass es unvermeidlich auf Grund laufen würde.

Und es lief auf Grund, jedoch nicht so öffentlich wie die Menschen es erwartet hatten. Abeni verließ gerade eine Feier, als sie wie üblich mit der Presse und den Fans konfrontiert wurde. Es gab keine betrunkenen Schlägereien oder fliegende Flaschen, nur einen Wortwechsel und dann war Abeni verschwunden.

Nach dieser Nacht zog sie sich aus dem Rampenlicht der Öffentlichkeit zurück, ohne eine einzige Erklärung dafür abzugeben und begann damit, als Sozialarbeiterin zu arbeiten. Sie zog sehr häufig um, in Gebiete, die Hilfe besonders nötig hatten, und entfernte sich dabei immer weiter von dem Ruhm, der sie beinahe verzehrt hätte.

Abeni trat noch ein einziges Mal in der Öffentlichkeit auf. Im Jahr 2232, im Alter von 75 Jahren, war sie der Ehrengast beim Start der Artemis. Als Abeni am Podium stand, flankiert von Kapitänin Lisa Danvers, dem Missionsleiter Justin Cobb und wichtigen Staatsoberhäuptern, hatte sie folgendes zu sagen:

„Es gibt Momente, auf die man stolz sein kann. Ich habe es wirklich nicht verdient, auf dieser Zusammenkunft zu sein und neben diesen Menschen zu stehen, als ob ich zu ihnen gehören würde. Meine Existenz ist der einzige Grund, warum ich hier bin. Ich habe Ruhm und Bekanntheit erlangt, nicht durch Dinge, die ich getan habe, sondern ausschließlich, weil ich das Kind meiner Eltern bin. Doch es gibt Menschen, welche die Menschheit nicht nur durch ihre Handlungen, sondern ebenso durch ihren Mut und ihr Engagement voranbringen. Sie zwingen uns, in den Spiegel zu schauen und von uns selbst zu verlangen, dass wir uns bessern. Ich habe versucht, ein besseres Leben zu führen, doch nun möchte ich von den wahren Helden hören.“

Dann trat sie vom Mikrofon weg, damit Lisa Danvers die Menschenmenge ansprechen konnte. Dies war das letzte Mal, dass sie in der Öffentlichkeit auftrat. Niemand konnte je mehr über die Gründe ihres plötzlichen Wandels all die Jahre zuvor erfahren, als sie in dieser Rede preisgab.

Abeni Okon starb am 12.09.2252 Standard-Erdenzeit im Alter von 95 Jahren.

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Der erste auf einem anderen Planeten geborene Mensch wurde mit einem einfachen Grabstein an einem Hang auf dem Mars zu Grabe getragen – auf der Welt, die sie half zu einer zweiten Heimat für die Menschheit zu machen, ob sie wollte oder nicht.