Literatur: Ein eigenes Gesetz - Kapitel: 1


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VerseExkurs - Literatur: Ein eigenes Gesetz - Kapitel: 1


Gates wusste, dass es haarig werden würde, und ging trotzdem hinein. Manchmal war das direkte Eingreifen in eine Situation die einzige Möglichkeit, sie zu retten. Darüber hinaus musste man gesehen werden, wie man versuchte, seine Spitzel zu schützen. Wenn sich herumsprach, dass diese ungestraft verletzt oder getötet werden konnten, würde sich kein armer Arbeiter mehr zu dieser gefährlichen Aufgabe bereiterklären.

Er seufzte und widerstand dem Drang, seine Waffen erneut zu überprüfen. Die in der Aufzugdecke montierten Sensoren zeichneten wahrscheinlich auf. Und wenn er schlau ist, hat Tiger Kitty jemanden, der sie überwacht. Warum also einen Hinweis geben, weswegen ich hier bin?

Der Aufzug kam knarrend zum Stehen und die Tür öffnete sich in einem schleppenden Tempo, was Gates sowohl nervig als auch symbolisch für den allgemeinen Zustand des Planeten und seiner riesigen Population von Zivilisten fand. Ungeduldig drehte er sich zur Seite und glitt in einen Korridor, der kaum weniger muffig und dunkel war als die meisten zivilen Unterkünfte, die er während seiner fast fünfzigjährigen Tätigkeit bei solchen Operationen gesehen hatte.

Seine Augen passten sich schnell an die Dunkelheit an und Gates erkannte Details, die er genauso gut hätte übersehen können: den Kadaver einer Ratte am Ende des Korridors direkt neben der Brandschutztür, Stim-Injektoren und weniger identifizierbare Dinge, die den Rest des ansonsten leeren Korridors übersäten.

Keine Wache? Wohl doch nicht so schlau. Es ist spät, aber trotzdem, ich hätte Tiger Kitty für schlauer gehalten.

Gates ging an der Tür vorbei, stellte sich daneben mit dem Rücken an die Wand und holte das vor Ort gebaut Hacking-Tool heraus. Er hasste es, sich auf lokale, ungetestete Technik zu verlassen. Aber in diesem Fall war die Möglichkeit, eine elektronische Signatur zu hinterlassen, welche die Ermittler dazu veranlassen könnte, eine Verbindung außerhalb des Planeten zu vermuten, nicht akzeptabel.

Er hätte sich keine Sorgen machen müssen, das Schloss erwies sich als weniger zuverlässig als das Tool und gewährte ihm bereits nach ein paar Sekunden Zutritt. Er steckte das Tool in die Tasche zurück und zog seine Waffe.

Während sich die billige Tür öffnete, ächzte sie in ihren Schienen. Er trat ein, die Waffe im Anschlag, und suchte die Ecken nach Zielen ab.

Ein kleiner Eingangsbereich, links eine Öffnung zu einer Küchenzeile, eine weitere Öffnung geradeaus.

Er überprüfte die Küche: winzig, voller Gestank, Schmutz und weggeworfener Essensbehälter, keine Bedrohungen.

Gates ging weiter und betrat den Hauptwohnbereich. Eine Frau schnarchte leicht, bäuchlings liegend auf einer Luftmatratze, die inmitten eines überraschend teuren Unterhaltungssystems ausgelegt war.

Das mahlende Heulen einer schlecht gewarteten Müllverwertungsanlage kündigte die Anwesenheit des anderen Bewohners an und identifizierte den Raum hinter dem Wohnbereich als das Badezimmer. 
Gates durchquerte den Raum in wenigen Schritten und stellte sich mit dem Rücken zur Wand.

Die Badezimmertür öffnete sich, sein Ziel schlurfte heraus. Tiger Kitty hatte auf den Auftragsvideos besser ausgesehen.

In Kürze würde sich sein Aussehen noch mal deutlich verschlechtern.
Gates trat ihm hart in die Kniekehle. Kitty ging zu Boden, sein Kopf prallte gegen das Gehäuse der Entertainment-Konsole und aktivierte das System. Sataball-Ergebnisse und -Ranglisten scrollten durch die Luft zwischen ihnen. Gates näherte sich Kitty und verpasste ihm einen Tritt ins Gesicht, als sich dieser umdrehte. Tiger Kitty sackte auf die Matratze, was die Schläferin aus ihrem benebelten Schlummer erweckte.

„Was?“, fragte sie.

„Angelique lässt grüßen“, erwiderte Gates und trat ihr in den Unterleib. Doper keuchte und rollte sich in einem verspäteten Versuch, sich zu schützen, zusammen.

Kitty versuchte, seine Benommenheit abzuschütteln. Doch Gates unterbrach das, indem er den Lauf seiner Pistole an die blutige Stirn des Mannes presste.

„Ich habe Geld.“

„Das glaube ich dir gerne. Zu deinem Pech geht es hier nicht um Geld.“

„Ich habe Drogen.“

Gates tippte Kitty mit der Pistole auf die Stirn. „Noch einmal, darum geht es nicht.“
„Worum dann?“, jammerte Kitty.

„Du hast neulich ein Mädchen blutig geschlagen, du und deine Freundin hier.“ Gates trat lässig nach Doper aus, was ihr wieder den Atem raubte. „Habt sie ordentlich zugerichtet, und das alles nur, weil sie die Frechheit besaß, von euch kaufen zu wollen, sogar mit Geld in der Hand.“

 „Sie hat es verdie–“ Gates brachte ihn mit einem Pistolenschlag zum Schweigen.

Als Kitty wieder auf der Spur war, kehrte Gates zu seiner Geschichte zurück: „Nun, abgesehen von der schlechten Geschäftspraxis, Kunden zu verprügeln, die ihr Dope mit Bargeld bezahlen wollen, anstatt mit, mit – wie war das noch mal?“, fragte Gates die Antwort bereits wissend.

Kitty öffnete den Mund, aber Gates schnitt ihm das Wort ab: „Ach ja, du wolltest, dass sie mit dir und deiner Freundin ins Bett steigt.“

Kittys einzige Antwort war das Schließen seines blutigen Mundes.

„Dieses Mädchen, das deinen Avancen widerstanden hat? Ihr Nein hätte dir genügen müssen, aber das hat es nicht. Jetzt bist du darauf aufmerksam gemacht worden, dass sie Freunde besitzt.
Freunde, die furchtbar enttäuscht wären, wenn sie erfahren würden, dass man ihr etwas angetan, sie nicht bedient oder auch nur mit weniger als dem äußersten Respekt behandelt hat. 

Ihre Enttäuschung wird zu einem weiteren Besuch von mir oder jemandem wie mir führen. Dieser Besuch wird kein höfliches Gespräch wie dieses sein. Tatsächlich wird sehr wenig gesagt werden, abgesehen von ein bisschen Flehen deinerseits, falls sich der Besucher so etwas anhören wollte, bevor er dir das Hirn herausbläst.“

Gates lächelte: „Habe ich mich klar ausgedrückt?“

Kitty wischte sich den blutigen Mund ab und nickte.

„Sag mir, dass ich nicht wiederkommen muss.“

Kitty spuckte Blut. „Musst du nicht.“

„Kann ich darauf vertrauen, dass du auch für deine Freundin hier sprichst?“ Er deutete mit der freien Hand dorthin, wo Doper noch immer zusammengerollt und keuchend lag.

Ein weiteres Nicken.

Zu einfach, flüsterte ihm eine innere Stimme zu. „Du sagst mir nicht einfach, was ich hören will, oder?“, fragte Gates.

Kitty schüttelte den Kopf, Blut spritzte auf den Boden zwischen ihnen.

„Irgendwie glaube ich dir nicht.“

„Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.“ Kitty blickte Gates in die Augen. Gates konnte in dessen Gesicht Wut erkennen, sicher, aber es spiegelte sich auch eine gesunde Dosis Angst darin wieder.

Gates zuckte mit den Schultern. „Ich schätze, das geht in Ordnung.“ Er deutete auf Doper: „Vielleicht solltest du deine Freundin auf eine Krankenstation bringen.“ 

Als Kitty seine Geliebte ansah, bewegte sich Gates rückwärts zur Tür. „Denk daran, was wir besprochen haben“, sagte er von der Tür aus.

Ein weiteres Nicken.

Gates machte sich auf den Weg, kam aber nicht weit. Einen Moment später hörte er von drinnen ein Klappern, gefolgt von dem Geräusch nackter Füße auf dem Boden.

Idiot, du hättest mit einer Warnung davonkommen können.

Kitty stürmte heraus, eine billige Pistole in der Hand und ein Knurren auf gespaltenen Lippen.
Gates, der direkt vor der Tür kniete, streckte ihn mit zwei Schüssen nieder. Blut und Knochen bespritzten das untere Drittel der Tür, als Laserstrahlen die Kniegelenke des Dealers zerstörten. Kitty knallte auf den Boden und rutschte durch den Flur, um mit dem Gesicht voran gegen die Wohnungstür auf der anderen Seite zu knallen.

Gates schüttelte den Kopf über die Dummheit der Menschheit und ging zur Treppe.

Dopers Schreie ertönten, als sich die Brandschutztür hinter ihm schloss. Gates verschwendete kaum einen Gedanken an sie, als er die Treppe hinaufstieg. Kitty würde überleben, wenn Doper sich lange genug von ihrer Panik lösen könnte, um den Rettungsdienst zu rufen.

Gates verließ das Treppenhaus im obersten Stockwerk und ging hinaus auf die Straßenebene. So spät in der sechzehnstündigen Nacht des Planeten erwachten die Straßen gerade wieder zum Leben. Er hielt ein vorbeifahrendes Fahrradtaxi an und stieg ein. „Hauptbahnhof“, sagte er.

Ein paar Blocks vom Bahnhof entfernt reaktivierte Gates sein MobiGlas. Sofort piepte das Gerät mit einer Reihe von Benachrichtigungen, darunter ein eingehender Anruf von der leitenden Agentin Mitchi Oda.

Er unterdrückte ein Seufzen und öffnete den Kanal: „Gates“.

Das Advocacy-Logo wurde durch Odas missbilligende Miene ersetzt. „Wo sind Sie gewesen, Agent Gates?“

„Meine Suspendierung absitzen, Sie erinnern sich?“

„Ihre Suspendierung endete gestern Abend.“

Gates verbarg seine Überraschung mit einem Achselzucken und einem lachsen: „Das ist mir neu.“
„Wäre es nicht, wenn Sie Ihr MobiGlas aktiviert ließen.“

Gates ließ es ihr durchgehen. Sie ist nicht einmal halb so alt wie ich, hat kaum ein Zehntel meiner Berufserfahrung und ist es, ehrlich gesagt, nicht wert, mit ihr zu streiten. „Ich vermute, Sie rufen nicht an, um mir zu meiner Wiedereinsetzung zu gratulieren?“, fragte er.

„Nein“, antwortete sie und verzog die Lippen, als müsste sie sich zu ihren nächsten Worten überwinden: „Allerdings muss ich Ihre Suspendierung formell für das Protokoll aufheben: Special Agent Arminius Gates, Sie sind formell wieder in Ihren Rang als Special Agent der Advocacy eingesetzt mit allen dazugehörigen Privilegien.“

„Ich danke Ihnen, Special Agent Oda.“

Sie schüttelte den Kopf. „Wenn es nach mir ginge, wäre das nicht passiert.“

Wieder ließ er es ihr durchergehen und konzentrierte sich stattdessen auf das, was wichtig war. In der Erwartung, er würde am Schreibtisch sitzen und so etwas Langweiliges wie Hintergrunduntersuchungen über potenzielle zivile Auftragnehmer anstellen müssen, fragte er sie: „Welcher Auftrag also?“

Er hatte nicht gedacht, dass sie noch verbitterter aussehen könnte. „Sie gehen zurück zur Black Box: Die Special Action Division hat um Ihre Rückkehr gebeten.“

Nach Hause.

Er konnte sich ein dickes Grinsen nicht verkneifen. „Danke, Special Agent Oda.“